Meine Liebe!
Ich weiß, du kommst zurzeit sicherlich nicht zum Lesen, ABER: wenn doch, dann hol dir doch mal: Dinge, die wir heute sagten von Judith Zander. Meine Güte, die ist gerade mal 30 Jahre alt und schreibt schon wie Uwe Johnson. Hut ab! Jedenfalls empfehle ich dir das deshalb, weil dieses Buch ein hohes Identifikationspotential hat, zumindest, wenn man vom Dorf kommt, so wie ich, aber Stralsund ist ja auch fast Dorf, ne, nich … Lange Rede, kurzer Sinn: schön mit Platt und dieser ganzen vorpommerschen Beklopptheit, mit der bäurischen Stumpfheit, die aber unter der Decke so verschlagen ist … Man denkt, man lebt noch einmal. Ehrlich.
Liebe Grüße von mir
PS: Sie steht mit diesem Roman übrigens auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2010 und ist damit unter den letzten 6! Finalisten.
Eigentlich habe ich Bolaño nur in die Finger bekommen, weil ich vor einigen Monaten einen Artikel der SZ über den, wenn auch äußerst übersichtlichen verlegerischen Mut in Deutschland gelesen habe. Der eine betraf David Foster Wallaces „Unendlicher Spass“ und der andere Roberto Bolaños „2666“.
Dass mir Bolaño zuerst zufiel, war reiner Zufall. Dass es mich interessierte, dagegen nicht. Ein Werk von mehr als 1000 Seiten von einem chilenischen Autor, der mittlerweile verstorben (an Hepatitis!), Marquez und überhaupt alle chilenischen Blumen der Literatur nicht mochte (ich dagegen sehr) und dessen «infrarealistische Manifest» seine Anhänger weniger dazu verpflichtet, ästhetischen Prinzipien zu folgen, als zu reisen und sich kompromisslos der «Infrarealität» zu stellen: Alkoholexzesse in Unterweltsspelunken, sexuelle Eskapaden auf dünner Matratze, klamme Tagesanbrüche ohne Aussicht auf ein anständiges Frühstück. Und die Bereitschaft, notfalls für die Dichtung zu sterben.“ Sandro Benini in Das Magazin
Die erste Frage, die mich schon während der Rezeption beschäftigte, war:
Wer schreibt solche Bücher? Die Antwort kann vielleicht so ausfallen: Bolaño wird 1953 in Chile geboren. Seine Mutter arbeitet als Lehrerin, sein Vater verdingt sich als Spediteur und Boxer. Als Bolaño 14 Jahre alt war, reist die Familie nach Mexiko aus. Dort gilt Bolaño als verschroben, weil er jede freie Minute lesend in der öffentlichen Bibliothek verbringt.
Ewas über 20 geht Bolaño zurück nach Chile, reist kreuz und quer durch Lateinamerika und legt sich das zu, was man praktische Reife nennen könnte. Als Freigeist entgeht er nur knapp den Henkern von Pinochet, der sich mittlerweile an die Macht geputscht hat.
Bolaño kehrt zurück nach Mexiko. Dort gründet er die „Infrarealisten“ und formuliert das oben schon erwähnte „Infrarealistische Manifest». Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist die eines Menschen, der sein Handwerk wie kein anderer beherrscht, dessen Erfahrungsschatz, sowohl den literarischen als auch den, den man langläufig Erfahrungen nennt, also Lebenserfahrungen, sein größter Fundus ist. Der intelligent, wissend, protokollierend, niemals langweilend, manchmal schaudernd uns das schenkt, was wir am meisten ersehnen: gute Literatur!
Auch wenn der nächste Urlaub noch nicht in Sicht ist, es sei allen ans Herz gelegt, dieses Buch zu lesen. Es ist Geheimwissen und in diesem Sinne eine Offenbarung. Weiterlesen →
Tja, da lümmelt so ein (Blatt-)Macher irgendwo in einem Hotel herum, langweilt sich ein bisschen und will was lesen. Findet aber nix, außer ’ne Bibel, die da irgendwo rumliegt. Er fängt an zu schmökern und stellt fest, da stehen ja total abgefahrene Geschichten drin. Aber das kann sich ja kein Mensch antun. Alles so klein gedruckt und so gleich gewichtet. Er geht ins Bett und schläft.
Am nächsten Tag unter der Dusche hat er die zündende Idee: Die Bibel als Magazin rausbringen. Mit Kapiteln, Überschriften, Inserts … Gedacht, getan. Jetzt gibt es das Neue Testament als Magazin. Für 9,20 Euro. Manche behaupten, der Sinn würde sich jetzt auf ganz andere, neue Art erschließen. Testet es!
Antonia sagt, das geht ihr auf den Keks, dieser ganze Hegemann-Hype. Diese jahrelangen Threads auf Facebook, diese Neider, die bereuen, dieses Buch nicht selbst geschrieben zu haben, dieser ganze Berlin-Sumpf, in dem keiner keinem etwas gönnt. Deshalb machen wir das hier mal anders, wir kommen ja auch nicht aus Berlin, und hier in Hamburg gönnen wir der Hegemann das ganze Programm. Wir danken ihr für das Lesevergnügen und finden es überhaupt nicht schlimm, dass sie sich bedient hat, bei anderen, und wir verstehen auch nicht, warum sie das so anders machen sollte, denn irgendwie sind wir es gewöhnt, dass alle immer von anderen abschreiben.
Ich erinnere mich an dieser Stelle an meinen alten Filmprof Hickethier, der einmal sagte, dass er das Zappen durch die verschiedenen Programme der deutschen Fernsehlandschaft liebe, weil sich durch diese filmischen Versatzstücke eine eigene Erzählung ergäbe. Nicht anders verhält es sich mit Axolotl Roadkiller. Nur dass die Versatzstücke keine filmischen sind, sondern literarische (zugegeben, darüber streitet sich das Feuilleton noch) Bloggerschnipsel. Und Hegemanns Verdienst ist es, diese gefunden, mit eigenen gemischt und zusammengefügt zu haben. Das Verdienst der Auswahl und der Verbindung! Und das hat sie mit Bravour gemeistert. Finden wir hier jedenfalls, in Hamburg …
Eine zweite Sache fällt mir dazu ein: Es hat auch mit Filmwissenschaft zu tun. Ich fühle mich plötzlich zurückversetzt in den kleinen miefigen Vorführraum des Medieninstituts am Grindelberg. Es gab Seminare wie „Der postmoderne Film“ oder das Frauenbild in David Lynchs „Wild at heart“ (haha). Da saßen dann die angehenden Filmwissenschaftler und haben nach Filmzitaten (so nannte man das) gesucht, was nichts anderes bedeutete als die Frage: Wo zitiert der Film andere Filme. Von Plagiat oder Missachtung des Copyrights war da nie die Rede. Nein, DAS WAR KUNST!
Und deshalb finden wir hier in Hamburg, es ist jetzt genug. Fangt endlich an, über das Buch zu reden, das wir hier brilliant finden und das wir jedem ans Herz legen möchten.
Worum es in Axolotl (ein mexikanischer Schwanzlurch) Roadkill (angefahrenes Tier) geht?
Miefti, Schulverweigerin und Halbweise sagt es selbst: „Ich bin sechszehn Jahre alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als mich trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen etablieren zu wollen, die nichts mit der Gesellschaft zu tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin. Ich bin in Berlin. Es geht um meine Wahnvorstellungen.“
Ich erinnere mich nur ganz dunkel. Auch an meine Kindheit. Dabei war die gar nicht so dunkel, wie „man“ von Dunkeldeutschland im Allgemeinen erzählt. Jedenfalls … habe ich ein Buch geschenkt bekommen. Das heißt: „Such dir was aus, aber beeil dich!“ und stammt von Nadia Budde. Und das hilft mir, mich zu erinnern. Es ist also ein Buch für alle, die sich auch so schlecht erinnern können. An eine Kindheit in der DDR, mit Mai-Demonstrationen und Dauerwellen-Muttis (meine eigene!). Und Likörtrinken im Betrieb am Frauentag. Und Plastiknelken als Anstecknadeln. An den ganzen heimeligen Geruch dieser Omaland-Kindheit.
Und die von der anderen Seite Deutschlands (z. B. mein Freund) können sich dieses Buch auch angucken (das ist wesentlich unterhaltsamer als den Turm zu lesen), falls es sie interessiert, wie’s war, damals, als ich noch klein war …
Rübergebracht wird das alles äußerst originell: nämlich als „wilde Stilmischung, denn Nadia Budde benutzt typische Comic-Panels und Sprechblasen, aber daneben auch Fließtext und einzelne Illustrationen. Dadurch entsteht ein wirklich ungewöhnliches, tolles Buch …“
Zu den – (je nach Perspektive) zahlreichen oder spärlichen – Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und amerikanischen Gegenwartskultur zählt wohl das komplette Scheitern aller Versuche, Cricket irgendwo nahe der Gesellschaftsmitte zu etablieren. Zwar gibt es auch hier schon seit über 130 Jahren Cricket-Enthusiasten, doch sind diese bis heute Randgruppe geblieben. Und ebenso ergeht es ihnen in den Vereinigten Staaten.
Letzteres möchte Chuck Ramkissoon, der aus Trinidad stammt und zu einem begeisterten Amerikaner geworden ist, mit viel Leidenschaft, einem vorgeblich wasserdichten Plan und dem unerschütterlichen Glauben an den “American Dream“ (ein zentrales Thema des Buches, von dessen Hauptfiguren keine in Nordamerika geboren wurde) ändern. Denn der eloquente und einfallsreiche Neu-Amerikaner, der eigentlich Khamraj heißt, ist davon überzeugt, dass dieser Sport sein Land retten kann. Hans van den Broek, ein in Holland geborener und über London ebenfalls nach New York gekommener Börsenanalyst, soll ihm dabei helfen. Gleichzeitig ist er der Erzähler dieses Buches. (Was nicht die einzige Reminiszenz zu “Der große Gatsby“ bleiben wird.) Weiterlesen →
„Das Jahr magischen Denkens“ beginnt damit, dass John Gregory Dunne, der Mann, mit dem die Journalistin und Autorin Joan Didion seit 40 Jahren verheiratet ist, in der gemeinsamen Wohnung stirbt. Schon seit längerer Zeit hat er mit Herzproblemen gekämpft; dennoch fühlt sich die Autorin von seinem Tod komplett überrascht und aus der Bahn geworfen. In dem Buch beschreibt sie, wie aus dieser Erschütterung im Jahr danach nur sehr zögernd Akzeptanz wird.
Zunächst einmal lese ich sehr persönliche, direkte und dadurch eindringliche Schilderungen ihrer Trauer. Es sind Beschreibungen grotesker und hilfloser (aber letztlich vielen Trauernden vertrauter) Gedanken und Darstellungen des langen Weges zum allmählichen Loslassen. Ich bekomme die Wellen des Schmerzes beschrieben, die mir noch plastischer werden, wenn Didion anhand von Anekdoten illustriert, wie nah sich die beiden standen, wie symbiotisch und aufrichtig ihre Beziehung war. Weiterlesen →
Es ist schon manchmal verrückt, wie der Mensch funktioniert. Mal angenommen, ich eile durch die hektisierenden Einkaufsstraßen einer Großstadt und versuche, alles Wichtige im Kopf zu behalten, das es hier und jetzt unbedingt zu erledigen gilt. Bis plötzlich eine sehr nackte Frau vor mir steht, die mit lautem Geschrei Farbeimer über ihrem Kopf auskippt, mit einer Kettensäge herumfuchtelt, Feuer spuckt, sich dann mit wütendem Gesang auf dem Boden wälzt und mit all dem um Aufmerksamkeit buhlt. Vielleicht schmunzelnd, vielleicht schulterzuckend werde ich an dieser Situation vorbei gehen und sie sofort wieder vergessen haben. Nicht, weil ich etwas gegen diese Art von Performance-Kunst habe, sondern weil mir das zu bunt, zu laut und zu pathetisch ist, wodurch ich das Gefühl habe, dass das alles rein gar nichts mit meinem Leben zu tun hat.
Was aber, wenn die Frau keine Kettensäge und keine Wut mitgebracht hat? Was, wenn sie Feuer und Farbe, wenn sie alles Lärmende, Aufdringliche und Demonstrative für unnötig gehalten hätte?Wenn sie mich stattdessen schweigend, aber gründlich angesehen hätte? DIREKT INS AUGE? Zwar hätte ich wohl dennoch weiter gehen können. Aber ich bin sicher, dass es mir viel abverlangt hätte, ihrem Blick standzuhalten, dass sie mich irritiert hätte und noch eine ganze Weile beschäftigt.
So bin ich auch wenn es um Erzählungen geht: das Plakative lässt mich kalt. Richtig nah an mich ran kommt nur das Leise.
Auch Miranda July hat sich mit Performance-Kunst einen Namen gemacht – allerdings selten laut, dafür meistens deutlich. In ihrem Spielfilm „Me And You And Everyone We Know“ (2005) verwebt sie hintergründige Geschichten von leicht schrulligen Normalos auf der Suche nach Liebe. Und mit ihrem ersten Kurzgeschichtenband bleibt sie den leisen Tönen treu. „No one belongs here more than you.“ (2007) – hier von der Autorin selbst vorgestellt)(dt.: „Zehn Wahrheiten“) fordert seine Leser heraus, ohne diese durch dabei angewandten Übereifer zu verschrecken. Miranda July bietet ihnen wie jede/r gute Autor/in hinter jeder Geschichte viel Platz und Anstoß zur Selbstreflektion, überlässt es ihnen aber selbst, ob sie diesen Weg wirklich gehen wollen. So könnte man sich natürlich auch einfach zurücklehnen, um die Figuren dieser kurzen Erzählungen als schrullig, bedauernswert und einsam zu betrachten, um ihre Eigenheiten zu belächeln oder darüber die Nase zu rümpfen. Oder man lässt ein bisschen Grübelei zu und fragt sich, wie nah man unter der Oberfläche doch eigentlich selbst dran ist an all dieser Kauzigkeit, Verunsicherungund Suche nach Liebe.
In jeder der 16 Geschichten erlebt man skizzierte Figuren in skizzierten Situationen, die allerlei Vergangenheit mit sich rumschleppen. Meist sind sie mitten in den Dreißigern, aber noch nirgendwo richtig angekommen. Mal sorgt man sich um sie, mal wird man von ihnen überrascht. Oft benehmen sie sich eigenartig, aber immer glaubt man zu ahnen, warum. Sie sind keine ach so guten oder schlechten Menschen, weder Helden, die einfach alles schaffen, noch kann man sie „Looser“ nennen oder komplett Gescheiterte. Sie sind Menschen, die vielleicht zu viel allein sind, die zu viel nachdenken und Sicherheit suchen. Denn dass das mit den Gefühlen immer absolut schillernd und großartig und perfekt zu sein hat und das mit dem Sex sowieso bekommen wir von der Pop-Kultur doch täglich aufgedrängt, wodurch ein vielfaches Scheitern an diesen Maßstäben im Grunde für jede/n unausweichlich ist. Damit kommt der eine gut zurecht, der andere eben weniger.
So werden in „It Was Romance“/“Es war Romantik“ Kursteilnehmerinnen dabei beschrieben, wie sie lernen wollen, romantischer zu sein, ungewöhnlicherweise in einem Samstagslehrgang voller entsprechender Übungen und Mantras. Bis in der Pause deren Einsamkeit offensichtlich wird und die Unbeholfenheit im Umgang mit sich selbst und anderen. Alles mündet in einem wirklich rührenden Moment, der wiederum von reichlich unbeholfenem Schmerz umgeben ist. Was genau das Ergebnis dieser Szene für deren zwei Hauptpersonen ist, muss dabei am Ende meinen Ahnungen als Leser/in überlassen bleiben.
Die Sprache erscheint mir ausgefeilt und doch unbemüht und frei von krampfhaft erzeugter Symbolik. Mal sehr direkt, mal voller Poesie. Ohne ironische Distanz, ohne peinliches Pathos. Und irgendwie ist alles klein: die Sätze, die Leute, die Dramen. Erst dahinter schimmert dann das Große, was diese Geschichten so unglaublich gut macht.
Aber auch anstrengend. So muss ich zugeben, dass mich diese Lektüre irgendwie erschöpft hat, dass ich immer mal wieder Pausen brauchte zwischen den einzelnen Erzählungen. Und nein, gute Laune habe ich nicht bekommen vom Lesen in diesem Buch, aber auch nicht deren Gegenteil. Vielmehr empfand ich –neben einer nachdenklichen Aufgewühltheit – durchaus auch ein Gefühl tiefer Zufriedenheit, weil ich fand, etwas wirklich Großartiges gelesen zu haben.
Auch weil die Autorin in Mikro-Details noch Dramatisches zeigen kann.Weil der Humor nie flach ist oder auf Kosten der Figuren. Undweil ich am Ende immer wieder Hoffnung mitschwingen zu spüren glaube.
Und noch ein wunderbares Gefühl bleibt: hier wird niemand karikiert und verraten. Hier wird nicht geurteilt und nicht bewertet – nicht über die Protagonisten und auch nicht über die Leser. Vielmehr weht eine Zärtlichkeit durch die Zeilen, die den Blick direkt ins Auge (und deren Wirkung dicht dahinter) erträglich macht.
dazu hören: „In The End“ von Scott Matthew (youtube)
Der Skandalautor hat sich vor allem mit seinen 2001 und 2003 erschienenen Romanen „Elementarteilchen“ und „Plattform“ in Deutschland einen Namen gemacht. Seit 2005 gibt es den vorerst letzten Roman von Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel.Weiterlesen →
2005 veröffentlicht Dorota Maslowska nach Schneeweiß und Russenrot ihr zweites Buch: Die Reiherkönigin. Im vergangenen Monat erschien der „Rap“ auf Deutsch. Olaf Kühl hat mit seiner Übersetzung das Unmögliche möglich gemacht: einen zutiefst verslangten polnischen Text in einen sehr interessanten deutschen transferiert.
Maslowska gewann mit dem Buch den Nike 2007, den wichtigsten polnischen Literaturpreis. Weiterlesen →