Eigentlich wollte Juli Zeh ihren neuen Roman „Horror“ nennen. Der Verlag sprach sich dagegen aus, zum Glück, wie ich finde, denn das hätte in die falsche Richtung geführt.
Worum geht’s? Um nicht mehr und nicht weniger als den ganz normalen Wahnsinn: Henning und Theresa bemühen sich, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen und sich zu gleichen Anteilen in die Familie (+ zwei Kinder) einzubringen. Doch das Familienkonto wird ungleich belastet: Theresa ist die Hauptverdienerin und schafft das Geld ran. Henning arbeitet auch, aber „nur“ 30 Stunden, daneben kümmert er sich hauptsächlich um die Kinder, den Einkauf, Haushalt, all das, was er glaubt, leisten zu müssen, damit das Konto wieder ausgeglichen wird.
Insofern alles nachvollziehbar, nur dass Juli Zeh hier einmal die tradierten Geschlechterrollen tauscht und gleichzeitig aus dem autobiografischen Nähkästchen plaudert, denn, das stellte sie auf einer Buchvorstellung in Hamburg fest, bei ihr ist es genauso. Sie verdient und ihr Mann fühlt sich irgendwie komisch, weil er nun nicht mehr der Versorger der Familie ist. Ein „Aus-der-Rolle fallen“, das ihm zu schaffen macht.
Henning, und auch das kennt jede Mutter, die durch Job, Kinder und Haushalt dreifach belastet ist, kommt mit diesem Leben ziemlich schnell an seine Grenzen. Seit der Geburt seiner Tochter leidet er an Angstzuständen und wird regelmäßig von Panikattacken heimgesucht. Eine Reise nach Lanzarote über Silvester soll für etwas Erholung sorgen.
Das ist der erste Teil des Buches. Der zweite Teil erzählt die Geschichte von Henning und seiner Schwester Luna, beide zwei- und fünfjährig, in einer Rückblende. Die Familie fährt nach Lanzarote. Alles ist heile (Familien-)Welt. Bis die Mutter ein Techtelmechtel mit dem Gärtner des Hauses beginnt und von Henning – noch viel zu jung, um zu begreifen, was dort passiert –, in flagranti erwischt wird. Im Glauben, der Mutter würde weh getan, eilt er zum Vater und verrät den außerehelichen Beischlaf.
Was folgt, sind Tage des Horrors. Der Vater reist ab, die Mutter fährt ihm hinterher … auf dem Weg zum Flughafen kommt das Auto von der Straße ab. Die Mutter wird verletzt, fällt ins Koma und kommt in ein Krankenhaus.
Für Henning und seine Schwester heißt es von da an, alleine klar kommen. Eine Wand mit tausenden von Spinnen, ein tiefes schwarzes Loch in der Mitte der Terrasse, wo die Monster wohnen, nächtliche Schatten, Lebensmittel, die zu Neige gehen, Luna, die noch nicht alleine auf Toilette gehen kann, überall Warten, Dreck, Tränen, Durst, Hunger, Angst, Heimweh, Schmerz … (Juli Zeh meinte, sie hätte beim Schreiben Rotz und Wasser geheult.)
So viel zu der erzählten Geschichte. Die eigentlich Geschichte, und darüber klärt die Autorin bei der Buchvorstellung auf, ist die:
Wir haben viel erreicht, seit der sogenannten emanzipatorischen Revolution. Die Frauen haben die Pille und die Männer haben sie auch. Doch jetzt ist alles irgendwie zum Stillstand gekommen, ohne wirklich gelöst worden bzw. echtes Miteinander zu sein. Die Geschlechter sehen sich nur allzu oft als Konkurrenten, wer darf Karriere machen, wer muss zu Hause bleiben, wer kümmert sich um die Kinder, wessen Geld reicht für alle? Wer muss dazu verdienen, wer kann sich mit wie viel Zeit in die Familie einbringen? Und vor allem: wer kann noch er selbst bleiben? Wer fühlt sich nicht überfordert von so einem Leben? Ist das überhaupt noch Leben? Machen Kinder wirklich glücklich? Wie kann unter diesen Bedingungen überhaupt Beziehung, Familie, Leben gelingen?
Juli Zeh würde gerne die Gesellschaft in die Pflicht nehmen, für all diese tatsächlichen (im Sinne von: das sind Tatsachen, liebe Leute!) Probleme einen angemessenen Rahmen zu schaffen, der (Er-)Lösung ermöglicht.
Für den einzelnen hält sie selbst erst einmal nur eine Sache für aussichtsreich, und da wird es spirituell: Man muss sich von sich eine andere, bessere Geschichte erzählen. Und zwar nicht die tatsächliche, sondern eine vorgestellte. Dann hat man eine Chance. Alles andere ist Horror!
(Ob ich das jetzt alles beim Lesen des Buches metaphorisiert hätte, hmm, schwer zu sagen. Eher nicht. Aber es ist eine sehr interessante Sichtweise, die ich gerne mal ausprobiere.)
Juli Zeh: „Neujahr“
Luchterhand Literaturverlag, 2018